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Das Recht, Mensch zu sein - 1. Mai Rede 2016

Lena Frank, 01.05.2016

Es war Anfang 1886, als die nordamerikanische Arbeiterbewegung zur Durchsetzung des Achtstundentags und somit zum Generalstreik am 1. Mai auf rief. Es folgten Massenstreiks und Demonstrationen in den Industrieregionen. 80‘000 Arbeiterinnen und Arbeiter waren in den Strassen Chicagos. Bis zwei Tage später die Situation eskalierte. Der Angriff der Polizei auf Streikposten entfesselte die Spirale der Gewalt, das ganze Land wurde, nach dem am Haymarket eine Bombe hochging, in Kriegsrecht versetzt. Regierungen auf der ganzen Welt nutzten dies um gegen Gewerkschaften vorzugehen. Doch die Forderung nach dem Achtstundentag blieb. 1890 rief die zweite Internationale den 1. Mai zum „Kampftag der Arbeiterklasse“ aus, der auch heute noch gefeiert wird. Doch für was brauchen wir ihn noch? Ist er denn nicht einfach ein Tag der roten Folklore? Gerade dass der 1. Mai international gefeiert wird, ist in Zeiten des Casino-Kapitalismus und der Turbo-Globalisierung bedeutend. Es ist der Tag im Jahr, an dem sich die Linke auf ihre Wurzeln besinnt und die Solidarität lebt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter stehen zusammen auf der Strasse und kämpfen für ihre Anliegen. Gerade 2016 ist die internationale Gemeinschaft gefragt. Denn die europäische Grenzpolitik treibt tausende Menschen in den Tod. Allein in diesem Jahr sind 1200 Flüchtlinge dieser menschenverachtenden Politik zum Opfer gefallen. Eine Politik, die Eigeninteressen via pseudo Sicherheit über Menschenleben stellt. So wird eine neue Zweiklassengesellschaft heraufbeschworen. Wir und die anderen. Doch: Wer zieht diese Grenzen? Wer bestimmt über drinnen oder draussen? In kaum einem anderen Teil des Lebens hat die Willkür so heftige Auswirkungen auf die Menschen wie hier. Die ideologische Verherrlichung von Nationen tötet seit Menschengedenken. Die gepriesene Kultiviertheit des Westens reicht nur bis zum eigenen Nasenspitz. Doch gerade jetzt sollten wir in der Lage sein, festgefahrene Muster zu hinterfragen und gemeinsam neue Wege zu beschreiten. In Zürich lautet das Motto des diesjährigen 1. Mai „Wir alle sind Flüchtlinge“. Dieser Titel entbehrt aller Folklore. Er ist bitterer Ernst. Jeden Tag. Der 1. Mai dient genau dazu: Uns zu erinnern, dass wir jeden Tag aufstehen müssen um für unser Recht zu kämpfen. Für das Recht, Mensch zu sein.

Europa lässt zu, dass an seinen Pforten Menschen ertrinken. Durch den schmutzigen Deal mit Erdogan lässt Europa seine Maske fallen. Aus dem scheinheiligen Grund, Schutzsuchende sogenannt kontrolliert einreisen zu lassen, schickt es Menschen aus allen Ländern, zurück in die Türkei. Was dort passiert, weiss niemand genau. Der Deal wirft viele grundlegende Fragen auf. Wieso ein Abkommen mit der Türkei und nicht mit dem gebeutelten Griechenland? Wieso nicht sichere Fluchtwege und einen Verteilschlüssel organisieren? Und wieso nur Syrer aufnehmen? Die Antwort ist schnell gefunden: Europa will diese Menschen nicht. Die Aufnahme von Syrern ist reine Imagepflege. Doch diese vermag nicht von der Schande Europas ablenken. Leute leben seit Monaten dichtgedrängt mit Fremden in Zeltlagern. Im Spannungsfeld zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Trauer. Die Erfüllung von Grundbedürfdnissen die alltägliche Aufgabe. Brot, ein Schlafplatz, trockene Kleidung. Diese Menschen müssen jeden Tag aufstehen, um für ihr Recht zu kämpfen. Für das Recht, Mensch zu sein. 
Bei dem für uns alltäglich gewordenen Leid, stellt sich unweigerlich die Frage nach der Legitimation von Grenzen und der Einteilung in Nationen. Sobald die Bedeutung davon mehr als reine Verwaltung ist, werden unweigerlich Wertungen vorgenommen. Es gibt Inländer und Ausländer. Und hier kommt schnell die Unterteilung in nützliche und unnütze Ausländer. Wer unserer Wirtschaft hilft, ist gut und darf bleiben und einwandern, die anderen sollen gehen, denn die übervölkern unser Land. Dies ist das Credo der Rechten. Das nächste Irrbild folgt sogleich: Der kleine Mann trägt den Staat und erwirkt so das Recht, dass der Staat ihm dient. Die Staatsangehörigkeit wird zum Besitz, der verteidigt werden muss. Die SVP teilt allen voran diese Haltung. Dass Arbeiterinnen und Arbeiter jeden Tag von Unternehmen ausgebeutet werden, wird geduldet, denn dies dient der nationalen Gemeinschaft. Über die, die diese Gemeinschaft scheinbar ausnutzen, beklagt sie sich jeden Tag. So schafft sie es, die niederen Instinkte des Menschen zu bedienen und macht sie wieder zu Jägern und Sammlern. Sammeln von Geltung, Jagen, nach allem, was diese anzweifeln könnte. Die politische Agenda in der Schweiz und in Europa ist gemacht, um das Ego von einigen wenigen zu streicheln und nebenbei ihre Taschen zu füllen. Auf dem Buckel der Arbeiterschaft. Die SVP weiss gekonnt, sich bei der Bevölkerung anzubiedern. Durch Angstmacherei. Ängste, die wir vom Schulhof kennen. Jemand könnte mir mein Pausenbrötli wegnehmen, die coolen Kids könnten mich nicht mitspielen lassen, ich könnte gar als Streber gelten. So sind die Ängste mit uns erwachsen geworden: Angst vor dem Jobverlust, Angst davor, von der Gesellschaft nicht akzeptiert zu werden, ja ein Gutmensch zu sein. Meine Damen und Herren: wir müssen uns Ängsten stellen, um einen kühlen Kopf zu bewahren und unsere eigenen Lösungen zu suchen. Denn tun wir dies nicht und folgen blind der Masse, werden wir zu Lemmingen. Wir stürzen uns kopfüber in das Haifischbecken, das wir selber angelegt haben. Die ersten Beschlüsse des neuen Parlaments unterstreichen dies: Steuergeschenke für Reiche, Unternehmen und Grossbauern werden wieder und wieder und wieder gekaut, wie von einem geblähten Schaf. Dafür gibt es keinen Vaterschaftsurlaub und die Lohngleichheit wurde aus den Legislaturzielen gestrichen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sind die wahren Milchkühe unseres Landes. Sozialer Rückschritt zugunsten des wirtschaftlichen Fortschrittes. Die Schweiz liebäugelt lieber mit einer Obergrenze für Flüchtlinge als für Topgehälter. Nach dem von oben, dem Parlament, kaum mehr etwas zu erwarten ist, brauchen wir die Bewegung von unten umso mehr: Wir müssen jeden Tag aufstehen, um für unser Recht zu kämpfen. Das Recht, Mensch zu sein.
Im Versuch, die Gunst der Wählerschaft auf sich zu ziehen, vergessen gewisse Parteien die Anliegen der Bevölkerung. Das Zielpublikum dieser monumentalen Werbeaktionen ist eindeutig: Die stimmberechtigte Bevölkerung. Die bürgerlichen Parteien gehen sogar soweit, diese gegen die Minderheit der Nicht-Wahlberechtigten auszuspielen. Ängste werden generiert, Schuldige gefunden und Lösungen feilgeboten. Dabei wird tief in die Schatzkiste der Polemik gegriffen und mit finanziellen Mitteln selbstsüchtiger Parteiführer vermengt. Dieser Teig wird mit Hilfe der Medien zu einem aufgeblasenen, schwerverdaulichen Brot gebacken und dem Volk zum Frass vorgeworfen. Wohlgenährt und träge, spuckt die Mehrheit die verinnerlichten Parolen aufs Geratewohl wieder aus. So mit Wiederkauen beschäftigt, wird das Hinterfragen vergessen. Vor allem vor Abstimmungen nimmt die Maschinerie volle Fahrt auf. Aussagen wie: ‚Die Flüchtlinge sollten bereits im Mittelmeer versenkt werden‘ schockieren nicht mehr, die Reaktionen gleichen einem Frosch in Kältestarre. Beim Lesen der Kommentarspalten und beim durchscrollen auf Socialmediaplattformen bleibt mir regelmässig der Bissen im Hals stecken. Schiffe Versenken scheint zu einem Volkssport geworden zu sein. Auf Kosten der Schutzsuchenden Spiele zu betreiben, um den eigenen Geltungsdrang zu befriedigen, ist barbarisch. Ändern wir den Diskurs. Es ist an der Zeit, wieder unser eigenes Brot zu backen und dieses mit denen zu teilen, die keinen Ofen haben! Stoppen wir die bürgerliche Markt-Folklore. Stehen wir auf, um für unser Recht zu kämpfen! Das Recht, Mensch zu sein!

Über die Autorin

Lena Frank

Gemeinderätin Biel

Vize-Präsidentin Grüne Kanton Bern
ehem. Co-Präsidentin

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